POESIA BRASILEIRA EM ALEMÃO
Brasilianische Lyrik in deutscher Sprache
Coordenação: MARCOS FREITAS
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JORGE DE LIMA
( Alagoas, Brasil)
Jorge de Lima (1893, União de Palmares – 1954, Rio de Janeiro)
Jorge de Lima ist im Nordosten Brasiliens geboren und in Alagoas zur Schule gegangen. Er studierte Medizin in Baía und Rio de Janeiro, wurde aber nicht Artz, sondern Lehrer; später bekleidete er zahreiche öffentliche Ämter und wurde an die Universität von Brasilien berufen, wo er über die Literatur seines Landes las. Seine frühen Gedichte zeigen ihn auf den Spuren der Parnassiens; schon 1922 aber wandte er sich entschieden der Moderne zu. Der Einfluß der Negerdichtung auf sein Werk ist unverkennbar. In seinen späteren Jahren neigte er dem Katholizismus zu, den er freilich auf höchst persönliche, zuweilen sonderbare Art ausgelegt hat.
XIV Alexandrinos (1920); Poemas (1925); Novos Poemas (1925); Banguê (1930); Nêgra Fulô (1930); Poemas Escolhidos (1934); Tempo e Eternidade (1935); Túnica Inconsútil (1938); Poems (1939); Poemas Negros (1947); Invenção de Orfeu (1952); Obra Completa (1958).
Gedicht über eine beliebige Jungfrau / Poema de qualquer virgem (H. M. Enzensberger).
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Jorge de Lima (1893, União de Palmares – 1954, Rio de Janeiro)
Jorge de Lima ist im Nordosten Brasiliens geboren und in Alagoas zur Schule
Gedicht über eine beliebige Jungfrau
Die Jungfrau ist tätowiert: Generationen sind eingeschrieben
ihrem makellosen Bauch; denn sie bedeutet alles was künftig ist.
Mit Regenbogen sind ihr die Hände bemalt, die Arm emit
Babylonischen Türmen.
Der Leib der Jungfrau ist bemalt von Gottes Hand, denn sie ist der
Ursprung der kommenden Welt.
Kein Zoll ihres Leibes ist ohne Entwurf und Plan für die Zukunft,
keine Pore ist ohne Zeichnung; deshalb ist sie schön.
Wir wollen die Jungfrau lessen, die Zukunft erraten; denn wohlge-
merkt, der Mensch ist kurzsichtig, aber die Zeichnung lügt nicht.
Sehn Sie, in den Zeichen
sind Zeichen, Generationen verborgen in andern Generationen.
Wer hat die Jungfrau bemalt?
Das hat Gott getan am Tage des Sündenfalls.
Sehn Sie die Schlange, ihr einbeschrieben. Sehn Sie den Engel, ihr
eingeschrieben.
Sehn sie das Kreuz, ihr einbeschrieben. Meine Herren, treten Sie
Näher, der Eintritt ist frei. Sie sehen hier das Wunder der
Wunder, meine Herren, ich warden Sie in die Mysterien ein-
führen und die symbolischen Zeichen bis zum letzten Ome-
ga erklären. Treten Sie näher und bewundern Sie die fabel-
hafte Arbeit, eingraviert in den Leib der Jungfrau: die Ge-
schichte der Welt, die bewohnte Stratosphäre, den Zauberer
Tin-Ka-Lu auf der Reise zum Mond. Denn die Jungfrau ist
wunderbar, es fehlt ihr nichts. Treten Sie näher, meine Her-
ren, der Eintritt ist frei. Sie sehen hier abgebildet die Un-
schuld, die Lust, das Verbrechen, die Güte, und all diese un-
glaublichen Darstellungen sind der Jungfrau auf den Rük-
ken, den Hals und ins Gesicht geschrieben. Ihre Tätowie-
rung wird einen Aufruhr erregen. Die Stunde ist äußerst
Ernst, meine Herren. Große Revolten stehen bevor.
Sie sehen auf der Jungfrau ein Meer, Sie sehen ferner die Sieben
Schöpfungstage, Sie sehen die Sintflut, Sie sehen den Tod.
Treten Sie näher, meine Herren, der Eintritt ist frei.
Meine Herren, heute gibt es etwas zu sehen auf der Welt.
Wir wollen die Jungfrau sehen, die bemalte Jungfrau, bemalt von Gott,
Sie ist nackt und nicht nackt, ihre Zeichnung ist ihr Kleid.
Meine Herren, die Jungfrau wird sich vor Ihnen entblößen durch die
Jahrtausende.
In ihrer Zeichnung sind Eingebunden, Gedichte, Geheimnisse.
Und deshalb ist unsere Schau einmalig! Und deshalb können
Sie der Jungfrau nicht widerstehen!
Treten Sie näher, meine Herren!
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